.oO Schmerzliche Nähe (Gedanken...)

~xX([Schmerzliche Nähe])Xx~

"Nun verstehe ich es." Simone stand starr in der Nähe des winziges Gatters und betrachtete mit einem leidvollen Blick die Hand voll vierbeinigen Wesen darin, die Menschen als Kühe bezeichnen. Sie konnte sich nicht losreißen. Auf einmal war ihr alles klar. Ihr Leben lang hatte sie die Gefühle, die nun in ihr aufstiegen, verdrängen können. Doch genau jetzt war es ihr nicht mehr möglich sie zu ignorieren. Sie fragte sich, ob sich je ein Mensch so erbärmlich und beschämt wie sie jetzt gefühlt haben kann - allein bei dem Gedanken, ein Mensch zu sein. Ein Mensch...? Eigentlich ist auch das nicht von Bedeutung. Rassen, Arten... solche Einteilungen verleiten sogenannte Menschen nur dazu, zu vergessen, dass über diese Grenzen hinweg gleiche Bedürfnisse und gleiche Interessen existieren. Ob schwarz, weiß, grau, gescheckt, zwei- oder vierbeinig, mit Flossen oder Flügeln, (...) was macht das schon. Diese Tiere wären nicht das, was sie sind, wären sie nicht empfindungsfähig. Welcher Art oder Rasse sie angehören ist überhaupt nicht mehr von Belang. Aber es ist von Belang, dass sie unschuldig in einem Gefängnis dahinvegetieren und ihre Wärter und Wärterinnen ihr Leiden sogar noch genießen. Und wie sie es genießen. In Form von "Käse", "Butter", "Milch", "Fleisch", "Joghurt, "Sahne"... es gibt unendliche, beschönigende Namen, die diese Verbrecher und Verbrecherinnen sich dafür haben einfallen lassen, um den Ursprung dieser Konsumgüter möglichst sanft zu verschleiern. Wer sich das alles durch den Kopf gehen lässt, muss ernsthaft zu dem Gedanken kommen, warum diese Leute immer noch auf der anderen Seite der Gitterstäbe stehen dürfen und von da aus mit Verachtung auf ihre Opfer blicken können. Sie sprechen von "artgerecht", "natürlich", "normal", "köstlich" - und alles doch nur, um von den eigentlichen Verhältnissen abzulenken. Simone wurde schwummrig bei all den Gedanken, die ihr plötzlich durch den Kopf schossen. Sie versuchte ihre eigene Schuld der vergangenen Jahre vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber es wollte einfach nicht klappen. Wie konnte sie all diese Grausamkeiten über Jahrzehnte hinweg übersehen? Warum hat sie das Leiden dieser Wesen nicht an sich herangelassen? Und: Wenn schon sie es nicht sah, wie konnten es Milliarden andere Menschen ebenfalls nicht sehen? Sie wusste ihre Wut und Verzweiflung kaum zu zügeln. Langsam durchdrang eine unangenehme Gewissheit ihr Bewusstsein. Sie sahen es wohl schon... aber empfanden es nicht als Unrecht. Simone drehte sich etwas nach rechts, so dass sie die etwas abseits gelegene Menschentraube erkennen konnte. Diese hatte sich nicht grundlos zusammengefunden. Da stehen sie also, die Wärterinnen und Wärter. Der fröhliche Anlass, zu dem sie sich zusammen gefunden hatten, lag schamlos freizügig auf den Tischen, um die sie sich reihten. Auf reinen, weißen Tellern, in kleine, handliche Stücke zerteilt, lagen die Überreste einiger Wesen, die Menschen als Kühe bezeichnen. Simone hörte hinter sich immer noch das leise, schnaufende Atmen der Tiere, die diesmal noch verschont geblieben sind. Sie sah das verschmorte Fleisch. Sie überkam Übelkeit. Noch einmal wandte sie sich dem Gatter zu. "Sie essen eure toten Brüder und Schwestern.", flüsterte sie leise. Simone senkte den Blick. "Sie sind Kannibalen."